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Jahresbericht 2023

Dr-Braun_Portrait

Dr. med. Jörg Braun trägt bei der DRF Luftrettung die Gesamtverantwortung für den Bereich Medizin mit den Kernkompetenzen Notfall- und Intensivmedizin. Neben der operativen Durchführung gehören auch die Weiterentwicklung des Fachbereichs und die Mitwirkung in strategischen Fragestellungen zu seinem Aufgabengebiet.

Telemedizin ist in den letzten Jahren stark in die öffentliche Wahrnehmung gerückt. Ist sie aus den Anforderungen der Coronapandemie heraus entstanden?

Dr. med. Jörg Braun: Telemedizin wurde schon lange vor der Pandemie praktiziert. In der Schweiz ist es beispielsweise seit vielen Jahren üblich, einen Arzt per Telefon zu konsultieren. Auch das gehört zur Telemedizin: das Einsetzen von Kommunikationstechnologien, um trotz räumlicher Trennung ärztliche Dienste anzubieten. In Deutschland galt früher dagegen das sogenannte Fernbehandlungsverbot. Im Mai 2018 wurde es durch den Deutschen Ärztetag gelockert. Und damit wurde der Weg für eine digitale Unterstützung in der Patientenbehandlung geebnet.

Also wird Telemedizin in Deutschland seit 2018 angewendet?

Im Rahmen von eng definierten Projekten werden ihre Einsatzmöglichkeiten hierzulande schon deutlich länger ausgelotet. Im Jahr 2014 nahm zum Beispiel in Aachen der erste Telenotarzt die Arbeit auf. Das Konzept wurde danach bundesweit in etlichen Städten eingeführt: Rettungseinsätze werden über Kameras begleitet, Ärztinnen oder Ärzte sind also virtuell im Rettungswagen dabei.

Auch die DRF Luftrettung sammelte bereits früh Erfahrungen im Bereich der Telemedizin über eine Tochtergesellschaft, die Arbeit­nehmende auf Offshore-Windparks betreut.

Warum werden zurzeit so große Hoffnungen in die Telemedizin gesetzt?

Sie eröffnet viele Potenziale, um Abläufe in weiten Teilen des Gesundheitssystems zu vereinfachen und zu verbessern. Telemedizin kann unter anderem dazu beitragen, die Auswirkungen des zunehmenden Fach­kräftemangels abzufedern. Gerade in ländlichen Gebieten wird sie dabei helfen, die medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Aus gutem Grund ist Telemedizin fest in den Eckpunkten verankert, welche die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung vorgelegt hat. Entsprechende Gesetze sollen bereits im Januar 2025 in Kraft treten.

Lassen Sie uns vor allem auf den Bereich der Notfall- und speziell der Luftrettung schauen: Wie kann Telemedizin hier Abläufe verbessern?

Sie kann in vielen Punkten helfen: von der Alarmierung über die Behandlung von Risikopatientinnen und -patienten bis hin zur Übergabe an die Kliniken. Beginnen wir am Anfang der Rettungskette. Die enorm wichtige Arbeit der Disponentinnen und Disponenten in den Leitstellen kann durch Tele­medizin gleich in mehrfacher Hinsicht unterstützt werden. Ich greife jetzt nur eine Möglichkeit heraus: Momentan erhalten die Disponenten einen Anruf und müssen anhand von vorgegebenen Abfragealgorithmen  innerhalb von etwa 90 Sekunden die ungemein wichtige Entscheidung treffen, welches Rettungsmittel sie vor Ort schicken. Stellen Sie sich vor, die Disponentinnen und Disponenten könnten sich grundsätzlich per Videoschaltung zusätzlich direkt ein Bild von der Situation vor Ort machen – viele Notrufe gehen ja über mobile Telefone ein …

Würde das dazu beitragen, dass schneller ein Hubschrauber angefordert wird, wenn es um Leben und Tod geht?

Ein Bild oder ein Video sagen manchmal mehr als viele Worte und könnten Disponenten helfen, die Lage vor Ort besser einzuschätzen. Die Anruferinnen und Anrufer sind aufgrund der hohen emotionalen Belastung bei einem Notfall oft gar nicht in der Lage, korrekte Angaben zu machen.

Doch je besser die Information über die Lage vor Ort ist, desto zielgerichteter und schneller können die geeigneten Rettungsmittel disponiert werden.

 

Auf dem Weg in die Kliniken wird dann aber keine Telemedizin mehr gebraucht, oder? Dann sind die Patientinnen und Patienten ja bereits in den Händen von erfahrenen und bestens geschulten Notärzten …

Es stimmt: Unsere Notärztinnen und Notärzte sind sehr erfahrene Notfallmediziner, und unsere Crews werden speziell auf Einsätze jeder Art vorbereitet, unter anderem durch sogenannte Simulationstrainings, die wir dank Spenden regelmäßig durchführen können. Aber Telemedizin kann – wie die Digitalisierung im Allgemeinen – unseren Patientinnen und Patienten auch an Bord der Hubschrauber helfen.  

Aus diesem Grund investieren wir gerade in eine Lösung, mit der mobil große Mengen an Daten übertragen werden können. Der Partner, mit dem unser Entwicklungsbetrieb dafür zusammen­arbeitet, überträgt unter anderem Livestreamings der Tour de France aus einem Hubschrauber. Wir wollen genau diese Technologie nutzen, um große Datenmengen für medizinische Zwecke in Echtzeit zur Verfügung zu stellen.

SimMan

Sehr realitätsnahes Training

Mit hochwertigen Simulationspuppen trainieren wir den medizinischen Alltag sehr realitätsnah. Unser SimMan kann z. B. einen Herzinfarktpatienten mit allen klinischen Symptomen darstellen, auch mit EKG-Rhythmen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer  üben, Infusionen oder Drainagen zu legen und Medikamente zu geben. Die Puppe reagiert erstaunlich natürlich, sie kann sogar auf Fragen antworten. Daher vergessen auch routinierte Crewmitglieder oft, dass sie nicht mit einem Menschen arbeiten. 

Welche Vorteile kann eine Breitbandübertragung von Daten für Ihre Patienten mit sich bringen?

Zum einen können wir der Klinik, die wir anfliegen, sämtliche Vitaldaten in Echtzeit und vorab zur Verfügung stellen: So kann sich die Klinik optimal auf die Ankunft der Patienten vorbereiten, von der Übergabe in der Notaufnahme bis hin zum Team von Operierenden. Und die Notärzte im Hubschrauber können sich komplett auf die Versorgung der Patienten konzentrieren, weil sie Berichte nicht mehr telefonisch durchgeben müssen.

Und zum anderen können unsere Crews per Breitbandübertragung künftig weitere Spezialisten zurate ziehen. Zum Beispiel, wenn es sinnvoll sein könnte, von einer festgelegten Behandlungsroutine abzuweichen. Dank des hohen Datenvolumens, das zukünftig genutzt werden kann, ist es hinzu­geschalteten Spezialisten über hochauflösende Kameras möglich, die Situation nahezu so zu beurteilen, als seien sie mit vor Ort im Hubschrauber.

Eine Frage des Datenschutzes

Große Mengen an (Vital-)Daten erfordern ein hohes Maß an Datenschutz. Die DRF Luftrettung überträgt alle Daten über sogenannte VPN-Tunnels, also Netzwerkverbindungen, die von Unbeteiligten nicht einsehbar sind. Weil Telemedizinplattformen Medizinprodukte sind, werden sie nach dem Medizinprodukterecht zugelassen und müssen die Anforderungen an den Datenschutz im medizinischen Bereich erfüllen. Sobald eine Organisation telemedizinische Plattformen betreibt, ist darüber hinaus gesetzlich vorgeschrieben, dass sie ein Datenschutzkonzept hat, das weit über die Sicherheit der Datenverbindungen hinausgeht. Auch eine sogenannte Datenschutzfolgeabschätzung muss erarbeitet werden. Diese beleuchtet unter anderem, welche Auswirkungen es hätte, falls sich ein Hacker in einem Fall Zugriff auf Daten verschaffen würde – was nie mit völliger Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Die DRF Luftrettung stellt sicher, dass ein Hacker niemals generellen Zugriff auf alle Systeme hätte, indem sie auf eine klare systemseitige Trennung zwischen verschiedenen Bereichen achtet. 

Mit wem kann die Crew während des Fluges solche zwischenärztlichen Beratungen durchführen und eine zweite Meinung einholen?

Das Netzwerk mit hoch spezialisierten Expertinnen und Experten, das man für solche sogenannten Telekonsile nutzen kann, muss man sich natürlich nach und nach aufbauen. Aber dank verschiedener Kooperationen mit Universitätskliniken in ganz Deutschland haben wir bereits einige sehr gute und sehr wichtige Kontakte. Denn wir nehmen an Pilotprojekten teil und führen Feldstudien durch, weil wir immer nach den neuesten medizinischen Standards behandeln und Chancen für unsere Patientinnen und Patienten nutzen wollen. Pionierarbeit, die übrigens nicht von Krankenkassen bezahlt wird, weil sie über die Maßgabe des Sozialgesetzbuches hinausgeht, unsere Patienten „ausreichend und zweckmäßig“ zu versorgen.

Wird Telemedizin Patientinnen und Patienten denn dabei helfen, zu überleben?

Das tut sie bereits. Ich hatte vorhin schon davon gesprochen, dass Ärztinnen und Ärzte über hochauflösende Kameras quasi eine Visite vor Ort im Hubschrauber machen können. Das gilt natürlich auch für Visiten in anderen Krankenhäusern. Wenn Sie beispielsweise an die Coronapandemie zurückdenken: Hier wurde die intensivmedizinische Kompetenz der Berliner Charité per Telemedizin in andere Krankenhäuser gebracht.

Und ab wann wird die DRF Luftrettung Telemedizin einsetzen?  

Ich gehe davon aus, dass wir die notwendige Soft- und Hardware zur Übermittlung von Vitaldaten in Echtzeit bereits im dritten Quartal 2024 im ersten Hubschrauber implementieren werden.

Mit einem Symposium zum Thema Telemedizin, das wir im September 2024 durchführen, werden wir die große Bandbreite an Möglichkeiten, die Telemedizin im Kontext der Luftrettung eröffnet, für ein breiteres Publikum vorstellen. Ein Gebiet sind zum Beispiel telemedizinische Gesundheitsleitstellen, die ein vielfältiges Netzwerk von Spezialisten vereinen – von der Kardiologin bis zum Experten für Vergiftungen.

Und wir setzen uns bereits heute dafür ein, dass Telemedizin die Chancen auf Genesung für unsere Patientinnen und Patienten weiter verbessern wird. Das gilt im Übrigen auch für Menschen, die wir aus dem Ausland zurückholen. Auch für sie werden wir in Zukunft mithilfe von Telemedizin noch mehr leisten können, als das heute schon der Fall ist.

Das klingt alles sehr vielversprechend und macht Hoffnung. Also ist Telemedizin die Zukunft und der mediale Hype um sie gerechtfertigt?

Telemedizin kann und wird dabei helfen, die Abläufe in der Notfallversorgung und die medizinische Versorgung von Menschen gerade in ländlichen Gebieten zu verbessern. Das liegt auf der Hand. Allerdings kann Telemedizin Menschen, die sich engagieren und persönlich einbringen, niemals ersetzen. Wir werden immer hoch motivierte und hoch qualifizierte Menschen brauchen, die bereit sind, um zwei Uhr nachts aufzustehen, um eine Patientin mit Schlaganfall, ein schwer verletztes Unfallopfer oder ein herzkrankes Frühchen in die rettende Klinik zu bringen. Ich bin jeden Tag sehr dankbar dafür, dass wir solche Fachkräfte haben. Und dass es Menschen wie unsere Fördermitglieder, Spenderinnen und Spender gibt, die unsere Arbeit unterstützen.